Zeiterfassung

Aus der Zeit gefallen

Das Bundesarbeits­gericht hat klargestellt, dass Arbeitszeiten genau zu erfassen sind. Nicht jede Berufsgruppe dürfte jubeln.

Aus der Zeit gefallen

Das Bundesarbeitsgericht hat in einem Grundsatzurteil festgestellt, dass der Arbeitgeber die Arbeitszeiten der Mitarbeitenden bei unionsrechtskonformer Auslegung des Arbeitsschutzgesetzes genau zu erfassen hat. Auf den ersten Blick eine Selbstverständlichkeit. Wieso also fürchten Juristen in ersten Reaktionen erhebliche Auswirkungen auf derzeitige Arbeitszeitmodelle in vielen Unternehmen hierzulande? Primär liegt dies daran, dass der Beschluss zwei Trends der Arbeitswelt im Grundsatz in Frage stellt, die gerade in den Pandemiejahren ab 2020 Fahrt aufgenommen haben: die schon früher verbreitete Vertrauensarbeitszeit und das flexible orts- sowie uhrzeitunabhängige Arbeiten. Denn die Vertrauensarbeitszeit ist nach dem Urteil nicht mehr zulässig, eine systematische Feststellung des zeitlichen Arbeitsumfangs zwingend erforderlich.

Das mobile Arbeiten, das – wir erinnern uns – viele Arbeitgeber zu Beginn der Pandemie nur notgedrungen auf breiter Front eingeführt hatten, droht angesichts der höchstinstanzlichen Feststellung zur Zeiterfassung zum bürokratischen Monster zu werden. Denn die Flexibilität, die mit dem mobilen Arbeiten über Nacht Einzug hielt, hat zahlreiche rechtliche Grauzonen erzeugt, die nun einer Klärung bedürfen. Ein Kind zur Kita bringen, ein kurzer Zahnarztbesuch, ein Paket zur Post tragen, eben mal eine Maschine Wäsche waschen, eine Runde joggen gehen – als Einschub in den Arbeitsalltag war plötzlich möglich, was im Büro meist nicht ging. Auf Basis der Vertrauensarbeitszeit wurde die Vermischung von Arbeitstätigkeit und privaten Erledigungen beidseitig unausgesprochen akzeptiert. Mit der Anforderung der genauen Arbeitszeiterfassung müssen die Grauzonen nun wieder verschwinden und einer klareren Trennung zwischen Arbeitszeit und privaten Aktivitäten weichen. Aus einer zielorientierten Beziehung zum Arbeitgeber, die dem Arbeitnehmer den Freiraum zu einer weitgehend selbstbestimmten Gestaltung des Tagesablaufs überlassen hat, droht eine Beziehung geprägt von Kontrolle und Misstrauen zu werden.

Viele Arbeitgeber wie Arbeitnehmer werden die Aufregung um das Urteil zwar nicht nachvollziehen können. Etwa in der Produktion oder auch bei stundengenau abrechnenden Dienstleistern werden die Arbeitszeiten ohnehin schon lange erfasst. Allerdings unterscheiden sich die Berufsfelder und damit auch die jeweiligen Arbeitsgewohnheiten – selbst innerhalb eines Unternehmens. Wer bei Volkswagen am Band steht, der arbeitet im strikten Schichtbetrieb. Arbeitszeiten werden dort wie selbstverständlich erfasst. Wer dagegen bei der Fahrzeug-IT-Tochter Cariad als Softwareingenieur arbeitet, hat nicht nur einen ganz anderen Arbeitsalltag, sondern auch eine differierende Vorstellung davon, wie sich dieser Alltag gestalten ließe.

Die Flexibilisierung haben die Unternehmen – gerade im IT-Umfeld – eben nicht geschaffen, um die Ausbeutung ihrer Mitarbeiter besser kaschieren zu können, wie es mancher Arbeitsrechtler vielleicht gerne anführt. Sie dient vor allem dazu, Mitarbeiter anzulocken, die keine Lust haben, in dem oft sehr bürokratischen Umfeld eines traditionellen Industrieunternehmens zu arbeiten. Wenn viele Programmierer auch heute noch lieber in Start-ups arbeiten als in Großkonzernen, erwartet diese dort mitnichten eine genauere Erfassung ihrer Arbeitszeiten, eine bessere Bezahlung oder gar weniger Überstunden. Werden die Unternehmen ihre IT-Talente künftig in ein Korsett der Arbeitszeitkontrolle zwingen müssen, werden sie es künftig noch schwerer haben, die ohnehin spärlichen Fachkräfte nach Europa zu locken.

Natürlich kann dem BAG nicht vorgehalten werden, mit einer Entscheidung bürokratischen Mehraufwand zu erzeugen oder etwa die deutsche Wirtschaft im internationalen Wettbewerb um Talente zurückzuwerfen. Das Gericht urteilt lediglich auf Basis der bestehenden Gesetzeslage und nicht etwa auf Basis wirtschaftlicher Erwägungen. Doch gerade deshalb wirkt der Beschluss wie aus der Zeit gefallen mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen für viele Unternehmen. Angesichts explodierender Energiepreise und mieser Konjunkturaussichten dürften nicht wenige Firmen in den kommenden Monaten um ihr wirtschaftliches Überleben kämpfen. Auch die Politik hat daher aktuell sicher andere Sorgen, als dieses Thema anzugehen. Wenn die derzeitige Krise aber hoffentlich überstanden sein wird, muss die Arbeitszeiterfassung wieder auf die Agenda. Denn die derzeitige Gesetzeslage ist offensichtlich noch zu unflexibel, um so manchem flexiblen Arbeitsmodell gerecht zu werden.

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