Veronika Grimm

„Zu oft Politik für Gut­verdienende“

Die Gewerkschaften Verdi und EVG haben mit einem Großstreik am Montag den Verkehr in Deutschland weitgehend lahmgelegt. Im Interview spricht die Wirtschaftsweise Veronika Grimm über den Streik, die wirtschaftlichen Folgen und die politischen Herausforderungen durch die hohe Inflation.

„Zu oft Politik für Gut­verdienende“

Frau Professor Grimm, waren Sie heute auch direkt vom Großstreik betroffen? Wenn Ja, wie?

Ja, ich musste heute nach Berlin. Leider mit dem Auto in Fahrgemeinschaft statt mit dem Zug. Überraschenderweise war nicht viel los. Da hätte ich Anderes erwartet.

Welche Folgen wird der Großstreiktag für die deutsche Wirtschaft haben? Ist damit die Rezession endgültig besiegelt oder macht ein einzelner Tag der Wirtschaft nicht so viel aus?

Nein, die Folgen dürften sich in Grenzen halten. Viele werden Treffen digital abhalten und nicht reisen. Die Fabriken laufen weiter. Was die generellen Konjunkturaussichten betrifft, haben sich diese zuletzt ein wenig verbessert. Als Sachverständigenrat erwarten wir nach unserer aktualisierten Konjunkturprognose jetzt für 2023 ein Wachstum von 0,2% statt ein leichtes Schrumpfen der Wirtschaft in gleicher Größenordnung. Die kurzfristigen Abwärtsrisiken für das Wachstum haben sich reduziert. Für 2024 gehen wir nun von 1,3% Wachstum aus.

Und was ist, wenn solche Streiks künftig häufiger vorkommen? Und befürchten Sie ein solches Szenario – auch mit Blick auf die Zeitenwende am Arbeitsmarkt hin zu einem Arbeitnehmermarkt?

Die Arbeitnehmer haben sicherlich eine größere Verhandlungsmacht aufgrund des Fachkräftemangels. Außerdem dürfte die Stimmung aktuell geladen sein aufgrund der hohen Reallohnverluste durch die anhaltende Inflation. Mittelfristig ist zu erwarten, dass sich die Reallöhne erholen. in unserer jüngsten Konjunkturprognose gehen wir aber davon aus dass die Reallöhne sich erst 2024 wieder erholen. Aktuell befinden wir uns gerade noch in einer herausfordernden Situation. Die Lohn-Preis-Spirale ist noch nicht vom Tisch.

In Frankreich gibt es aktuell wieder gewalttätige Proteste gegen die beschlossene Rentenreform. Ist so etwas auch in Deutschland vorstellbar?

Bisher ist Deutschland im internationalen Vergleich ein eher streikarmes Land. Das ist natürlich auch ein Standortfaktor. Allerdings bestehen ähnliche Herausforderungen mit Blick auf das Rentensystem auch in Deutschland. Bei uns wurden diese noch nicht angegangen. Der Bundeszuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung wird in den kommenden Jahren sehr deutlich an­steigen.

Wie beurteilen Sie denn die aktuellen Lohnforderungen von Verdi und EVG von 10,5% und 12%? Ist das angemessen angesichts der Inflation oder überzogen und ein Risiko in Sachen Lohn-Preis-Spirale?

Das sind erstmal die Forderungen, nicht die Abschlüsse. Aber wie gesagt: Das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale ist noch nicht vom Tisch, man muss also durchaus noch vorsichtig sein. Dass die konzertierte Aktion beendet wurde, dürfte eher daran liegen, dass man die aktuellen Tarifverhandlungen nur schwer im Kanzleramt führen kann. Man hat die Aktion vermutlich vorausschauend beendet, damit dies nicht mitten im Arbeitskampf zutage tritt.

Zuletzt sind bei der Inflationsbetrachtung zunehmend die steigenden Gewinne der Unternehmen in den Fokus gerückt. Treiben die die Inflation, und braucht es einen faireren Lastenausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern?

Die Gewinnanpassungen dürften die Inflation nicht systematisch treiben. Vor allen Dingen ist keine Spirale argumentierbar in dem Sinne, dass die Gewinnsteigerungen die Inflation befördern und dies wiederum die Gewinnsteigerung. Generell ist es wichtig, die negativen Auswirkungen der Inflation auf die Arbeitnehmer genau im Blick zu behalten.

Ist ein Preis der hartnäckig hohen Inflation auch eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft?

Wir stehen aktuell unter Druck, nicht nur durch die Inflation, sondern auch durch die Notwendigkeit unsere Hausaufgaben zu machen. Die Abhängigkeiten von China, die fehlende Verteidigungsfähigkeit, der Klimaschutz – all diese Herausforderungen kommen noch auf unsere Gesellschaft zu. Das wird uns Wohlstand kosten, und die Politik muss genau darauf achten, dass die Härten nicht von den Schwächsten, sondern von den Leistungsfähigsten getragen werden. Es wird leider noch zu oft Politik für die Gutverdienenden gemacht.

Was kann und was sollte die Bundesregierung tun, um für einen fairen Ausgleich und sozialen Frieden zu sorgen?

Eine klare Kommunikation der auf uns zukommenden Herausforderungen wäre extrem wichtig. Wir sind durch die Krisen ärmer geworden, und diese Härten wird unsere Generation auch tragen müssen. Wichtig wäre es, die Transformation sozial ausgewogen zu gestalten. Zum Beispiel, indem als Leitinstrument beim Klimaschutz ein Emissionshandel etabliert wird und die Einnahmen als Klimageld an die Bevölkerung zurückgegeben werden. Davon profitieren insbesondere die unteren Einkommensgruppen, die geringere Emissionen verursachen. Im Gebäudebereich gilt es, Optionen zu schaffen, die den Menschen einen Umstieg auf klimafreundliche Wärmeversorgung er­möglichen – etwa durch die Schaffung von Wärmenetzen. Außerdem sollte darauf geachtet werden, klimaschädliche alte Heizungen zuerst umzustellen und den Menschen einen auch finanziell machbaren Transformationspfad zu ermöglichen. Der aktuelle Gesetzesentwurf, der zur Bestellung von Gasheizungen führt, solange das noch möglich ist, ist hingegen nicht zielführend. Das verschwendet Ressourcen und bindet unnötig Fachkräfte.

Die Europäische Zentralbank (EZB) warnt immer wieder vor zu hohen Lohnabschlüssen, um keine Lohn-Preis-Spirale zu riskieren. Zugleich erschweren ihr die aktuellen Bankenturbulenzen weitere Zinserhöhungen. Wie sollte die EZB mit dem Dilemma aus Inflation und Finanzstress umgehen?

Das vorrangige Ziel ist weiterhin die Inflationsbekämpfung. Wir sind da noch nicht über den Berg. Die Aufgabe der EZB wird immer herausfordernder. Zu geringe Zinssteigerungen bergen die Gefahr, dass die Inflation sich hält oder wieder anzieht. Zu hohe Zinssteigerungen könnten dagegen die Finanzmärkte unter Druck setzen.

Die Fragen stellte Mark Schrörs.