AMERIKA HAT GEWÄHLT

Wahlkrimi um das Weiße Haus

Republikaner und Demokraten bringen ihre Anwälte in Stellung - Auszählungen könnten sich hinziehen

Wahlkrimi um das Weiße Haus

Einen spannenderen Verlauf hätte das Rennen um die US-Präsidentschaft nicht nehmen können. Am Tag nach der Wahl lag der Demokrat Joe Biden knapp vor Präsident Donald Trump. In jenen Staaten, die er für eine Wahlmännermehrheit erobern muss, startete Biden eine fulminante Aufholjagd. Von Peter De Thier, WashingtonEine der turbulentesten Wahlnächte in der amerikanischen Geschichte hat keinen eindeutigen Sieger ermittelt. Doch die Wahl hat wie im Jahr 2000 zwischen George W. Bush und dem Demokraten Al Gore genug Verwirrung gestiftet, um eine neue Debatte um den Sinn eines Wahlmännersystems zu entfachen. Es ist ein System, welches aus dem vorletzten Jahrhundert stammt, eindeutig überholt ist und zum dritten Mal seit der Millenniumswende zur Folge haben könnte, dass ein Kandidat mit deutlich mehr Direktstimmen auf dem Konto in der Endabrechnung dennoch unterliegt.Den Auszählungen der Nachrichtenagentur AP zufolge hatte bis Mittwochabend der demokratische Kandidat Joe Biden 238 der notwendigen 270 Millionen Stimmen auf dem Konto. Auch an den Direktstimmen gemessen lag er um mehr als 2,5 Millionen vor Amtsinhaber Donald Trump. Im Repräsentantenhaus, wo die Demokraten auf einen Durchmarsch gehofft hatten, dürften sie ihre klare Mehrheit behaupten. Sie könnten aber mit dem Versuch, auch im Senat die Mehrheit zu erobern, gescheitert sein.Wie auch vor vier Jahren wird eine kleine Hand voll Staaten entscheiden, ob Trump oder Biden im Januar als Präsident inauguriert wird. Dort aber könnte es noch mehrere Tage dauern, bis alle Briefwahlstimmen ausgezählt sind und die Wahlbehörden imstande sind, einen Sieger zu küren. Einige Überraschungen Die mit großer Spannung erwartete Wahlnacht nahm einen kuriosen, aber letzten Endes doch vorhersehbaren Verlauf. Biden und Trump wurden beide von einem Wechselbad der Gefühle begleitet. Dabei hat zunächst Amtsinhaber Trump Grund zur Freude. In Florida, wo dem demokratischen Herausforderer gute Chancen eingeräumt worden waren, fuhr Trump einen Sieg ein und holte 29 wichtige Wahlmännerstimmen. Hätte Biden im sogenannten Sonnenscheinstaat reüssiert, dann wäre ihm der Gesamtsieg praktisch nicht mehr zu nehmen gewesen. Deutlich besser als vor vier Jahren Hillary Clinton schnitt Biden bei Senioren ab, die in Florida einen substanziellen Anteil der Wähler ausmachen. Umso größer waren dafür aber seine Verluste bei Latinos, vor allem im größten Bezirk um Miami, wo viele Wähler kubanischer Abstammung sind.Obwohl Latinos tendenziell demokratischen Kandidaten den Zuschlag geben und Biden bei diesen insgesamt vorn liegt, liefen ihm kubanischstämmige Wähler in Scharen davon. Sie waren mit Erinnerungen an oder Geschichten über Fidel Castros kommunistisches Regime aufgewachsen und Trumps Feldzug gegen den angeblichen “Sozialisten” Biden hatte bei ihnen wohl verfangen.Obwohl die Vorentscheidung zugunsten des Demokraten ausblieb, hielt er auch nach der Schlappe im Süden die nach wie vor besseren Karten. Als sich dann noch im traditionell konservativen Arizona ein Etappensieg für Biden abzeichnete, stiegen seine Chancen weiter. Dort machten sich vor allem demografische Veränderungen bemerkbar. In Arizona sind während der vergangenen Dekade bei Großstädten wie Phoenix und Tucson Vororte wie Pilze aus dem Boden geschossen. Vororte entscheiden Dort sind wie auch in zahlreichen anderen Staaten vor allem Frauen mit Familien zuhause. Sie machen einen bedeutenden Teil der Wählerschaft aus, sind von Trumps Präsidentschaft, insbesondere der Verharmlosung der Corona-Pandemie, zutiefst enttäuscht. Die sogenannten “suburban moms” kehrten dem Präsidenten dieses Jahr den Rücken und verschafften Biden wichtige Vorteile.So gesehen gab es einige unerwartete Zwischenergebnisse. Im Großen und Ganzen blieben aber demokratische ebenso wie republikanische Hochburgen ihren Kandidaten treu. Wie erwartet entscheidet sich die Wahl daher ein weiteres Mal in den Staaten Pennsylvania, Michigan und Wisconsin mit ihrem hohen Anteil an Industriearbeitern und Landwirten.In diesen Staaten des sogenannten “Rostgürtels” bewahrheiteten sich wiederum die schlimmsten Befürchtungen. Am Ende des Wahlabends lag der Präsident in Führung, weil es noch galt, neben vorzeitig abgegeben Stimmzetteln jene Briefwahlstimmen auszuzählen, die er bereits vorbeugend in Frage gestellt hatte. Trump erklärte sich in der Nacht praktisch zum Sieger. Den Demokraten warf er “Wahlbetrug” vor und unterstellte ihnen, seinen Sieg stehlen zu wollen. Schrumpfender Vorsprung Als im Verlauf der Nacht und am Morgen weitere Stimmen ausgezählt wurden, schrumpfte Trumps Vorsprung. Sowohl in Michigan wie in Wisconsin hatte plötzlich Biden die Nase vorn. Einige dieser Staaten können noch bis zum 9. November die Stimmen auszählen.Besonders in Großstädten wie Detroit und Milwaukee sowie den angrenzenden Vororten, wo traditionell demokratisch gewählt wird, dürfte das Ergebnis noch auf sich warten lassen. Daraus nährt sich die Hoffnung der Demokraten, das Ruder noch herumreißen zu können.So oder so wird es angesichts der teils hauchdünnen Abstände schwierig bis unmöglich sein, vor Auszählung der letzten Stimmen Biden oder Trump zum Sieger zu erklären. Ganz gleich, wer sich als neu gewählter Präsident feiern lässt, das letzte Wort wird auch dann längst nicht gesprochen sein. So könnte der Wahlverlierer Nachzählungen verlangen. Diese sind in den meisten Staaten dann möglich, wenn der Rückstand weniger als 1 Prozentpunkt beträgt – das ist in den wenigsten der bislang ausgezählten Staaten der Fall.Auch eine Lawine an Rechtsverfahren, die bis zum Obersten Gerichtshof gehen könnten, scheint unvermeidlich. Sowohl Republikaner als auch Demokraten haben Armeen von Anwälten mobilisiert, die bereit sind, bis zur Einbindung des Obersten Gerichtshofs sämtliche Instanzen zu durchlaufen. Eine Neuauflage von Bush-Gore aus dem Jahr 2000 könnte also vorgezeichnet sein.