LEITARTIKEL

Veränderte Vorzeichen

Das Jahr 2021 hat gerade erst begonnen, und doch denken in Frankreich viele Politiker bereits an das Frühjahr 2022. Dann nämlich stehen in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Eurozone Präsidentschaftswahlen an. Marine Le Pen von der rechtsextremen...

Veränderte Vorzeichen

Das Jahr 2021 hat gerade erst begonnen, und doch denken in Frankreich viele Politiker bereits an das Frühjahr 2022. Dann nämlich stehen in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Eurozone Präsidentschaftswahlen an. Marine Le Pen von der rechtsextremen Rassemblement National, Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon und Rechtspopulist Nicolas Dupont-Aignan haben bereits ihre Kandidatur verkündet, andere bringen sich wie die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo und Ex-Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg in Stellung. Und doch hat selten zuvor in Frankreich 15 Monate vor einer Präsidentschaftswahl eine solch unübersichtliche, unklare Situation geherrscht. Das liegt zum einen an der Covid-19-Pandemie, die Frankreich wie kaum ein anderes Land in Europa getroffen hat. Das liegt zum anderen aber auch an der von Präsident Emmanuel Macron verkörperten Haltung, sich nicht auf eine etablierte Richtung wie sozialistisch, konservativ oder liberal festlegen zu lassen, sondern sich verschiedener Ideen zu bedienen. Die nächsten Monate werden entscheidend für den Ausgang der Präsidentschaftswahl sein. Die Bevölkerung ist verängstigt und verunsichert, das Staatsoberhaupt extrem unbeliebt. Gleichzeitig jedoch ist die Opposition äußerst schwach, während das Land mit einer Krise kaum gekannten Ausmaßes kämpft. Noch hat Präsident Macron bewusst offengelassen, ob er für eine zweite Amtszeit kandidieren wird. Tatsächlich wirken seine Chancen auf Wiederwahl auf den ersten Blick nicht sehr gut. Denn wie seine Vorgänger Nicolas Sarkozy und François Hollande wurde er in der Wählergunst schon bald nach seiner Wahl abgestraft. Auch sie hatten während ihrer Amtszeit schwer zu kämpfen: Sarkozy mit der Finanzkrise, Hollande mit den Attentaten.Doch für Macron häufen sich die Krisen. Erst setzten ihn im Winter 2018/19 monatelange Proteste der Gelbwesten-Bewegung unter Druck, ein Jahr später wochenlange Streiks gegen die Rentenreform. Dann erfasste die Covid-19-Pandemie das Land mit voller Wucht. Im Herbst nun kam es zu neuen Terrorangriffen und in den letzten Wochen zu Protesten gegen ein neues Sicherheitsgesetz. Nun stehen Macron und seine Regierung wegen des mehr als holprigen Impfstarts erneut stark in der Kritik, nachdem ihnen bereits das Fehlen von Schutzmasken während der ersten Welle und zu wenig Testkapazitäten vorgehalten wurden. Dazu kommt die Krise, die Frankreichs Wirtschaft hart getroffen hat. Die strengen Ausgangssperren haben das Bruttoinlandsprodukt im abgelaufenen Jahr um vermutlich 9 % einbrechen lassen.Rein theoretisch könnten die Ausgangsbedingungen für Macron also nicht schlechter sein, sollte er tatsächlich für eine zweite Amtszeit kandidieren. Auch wenn ihm laut Umfragen noch immer ein Drittel der Franzosen vertraut, lehnt ihn eine Mehrheit der linken Wähler, die 2017 für ihn gestimmt haben, inzwischen ab. Auch viele Konservative zeigen sich von seinem Kurs, der oft an einen Kessel Buntes erinnert, enttäuscht. Nicht wenige von ihnen liebäugelten vor Ausbruch der Pandemie damit, 2022 für Le Pen zu stimmen. Zu behaupten, Macron hätte sein Mandat bereits verspielt, wäre dennoch falsch. Welche Chancen er in einem möglichen Duell mit Le Pen haben kann, wird stark davon abhängen, wie und ob die Impfkampagne nun gelingt, wie und ob Frankreich die Pandemie in den Griff bekommen kann.——Von Gesche WüpperSelten hat in Frankreich 15 Monate vor einer Präsidentschaftswahl eine derart unübersichtliche und unklare Situation geherrscht.——