KOMMENTAR

Kurze Halbwertszeit

Die Wahl von Yoshihide Suga zu Japans Premier gleicht einem Wunder: Der Kabinettschef ist nicht populär und gehört keiner Politdynastie an, auch fehlt ihm eine Hausmacht in der Liberaldemokratischen Partei (LDP), die Japan seit 65 Jahren dominiert....

Kurze Halbwertszeit

Die Wahl von Yoshihide Suga zu Japans Premier gleicht einem Wunder: Der Kabinettschef ist nicht populär und gehört keiner Politdynastie an, auch fehlt ihm eine Hausmacht in der Liberaldemokratischen Partei (LDP), die Japan seit 65 Jahren dominiert. Seine Wahl verdankt er allein einer Unterstützergruppe um Altpremier Shinzo Abe, die ihn als Symbol für Kontinuität und Stabilität verkauft hat. Dass Suga von ihren Gnaden regiert, zeigt sich darin, dass er nach seiner Wahl viele LDP-Veteranen einschließlich Abes jüngerem Bruder Nobuo Kishi in sein Kabinett geholt hat.Suga wäre gut beraten, den Mehltau wegzublasen und bald eine vorzeitige Neuwahl anzusetzen. Die momentane Flaute bei Corona-Infektionen böte dafür eine gute Gelegenheit. Nur mit einem klaren Wahlsieg kann er von der Marionette zum Puppenspieler werden und wirklich aus dem Schatten von Abe heraustreten. Ansonsten muss er bei jedem größeren Stolpern damit rechnen, dass die Parteischwergewichte die Messer gegen ihn wetzen.Zwar hat Suga ein überzeugendes Wirtschaftsprogramm skizziert. Er will die Abenomics-Politik mit lockerer Geldpolitik und flexibler Fiskalpolitik fortsetzen. Für eine höhere Produktivität verspricht er, die Verwaltung zu digitalisieren, den ländlichen Raum zu beleben und die Sozialsysteme zu sichern. Endlich würden jene Strukturreformen, die Japan schon ewig vor sich herschiebt, angepackt.Abe verwandte sein Kapital lieber für nationalistische Projekte wie eine Verfassungsreform weg vom Pazifismus und verschwendete dabei acht wertvolle Jahre. Die Wirtschaft sollte vor allem gut laufen, damit er seine höheren politischen Ziele erreichen konnte. Für Suga ist die Wirtschaftspolitik dagegen ein Selbstzweck, damit sie den Bürgern direkt zugutekommt.Doch ein ausgezeichneter Kabinettschef ist nicht automatisch ein fähiger Premierminister. Ein Verwaltungsapparat lässt sich mit harter Hand steuern, aber das Ausbalancieren von Machtinteressen erfordert diplomatisches Geschick und politisches Fingerspitzengefühl. Und Suga muss auch die Wähler auf seine Reise mitnehmen. Jedoch fehlt ihm dafür die Ausstrahlung. Auch die notwendige Aufbruchstimmung verbreitet der fast 72-Jährige nicht. Sein Spitzname “Onkel Reiwa” – der Name der Amtszeit des neuen Kaisers – ist eher despektierlich. Seine Reden schläfern ein, sein Japanisch ist für einfache Bürger unverständlich. Wenn Suga nicht aufpasst, ist er den Spitzenjob so schnell los wie er ihm in den Schoß gefallen ist.