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Krankheit zwingt Premier Abe zum Rücktritt

Von Martin Fritz, Tokio Börsen-Zeitung, 29.8.2020 Am vergangenen Montag stellte Shinzo Abe noch einen neuen Rekord für die längste Amtszeit eines japanischen Regierungschefs auf. Nur vier Tage später hat der fast 66-Jährige seinen Rücktritt...

Krankheit zwingt Premier Abe zum Rücktritt

Von Martin Fritz, TokioAm vergangenen Montag stellte Shinzo Abe noch einen neuen Rekord für die längste Amtszeit eines japanischen Regierungschefs auf. Nur vier Tage später hat der fast 66-Jährige seinen Rücktritt angekündigt. Regulär hätte er noch bis September 2021 regieren können. Aber seine Gesundheit machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Seit Teenagertagen leidet er an Colitis ulcerosa, einer chronischen Entzündung des Dickdarms. Deswegen musste Abe schon 2007 bei seiner ersten kurzen Amtszeit vorzeitig aufgeben. Später ermöglichte ihm ein neues Medikament ein Comeback. Das Aufflammen der Krankheit erzwang nun das erneute Aus. “Ich will ein Führungsvakuum vermeiden”, begründete Abe am Freitag seinen Schritt. Japans Rolle gestärktAls erster Regierungschef, der nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, trat er vor knapp acht Jahren mit dem Versprechen an, die Nachkriegsordnung zu verändern und ein “starkes und blühendes” Land aufzubauen. Er wollte Japans weltpolitisches Gewicht erhöhen und sich gegen den Aufstieg von China zu Asiens Vormacht stemmen. Diese Ziele spalteten die Gemüter in Japan. Für die einen symbolisierte Abe ein chauvinistisches Japan, da er keine Reue für den Angriffskrieg in Asien zeigen wollte. Die anderen betrachteten ihn als pragmatischen Reformer, der die Wirtschaft und das Bündnis mit den USA stärkte, damit Japan “niemals zu einer Nation zweiter Klasse absteigt”, wie er selbst einmal formulierte.Seine erkennbare Leistung bestand darin, Japan nach Jahren mit ständig wechselnden Premierministern in ruhiges Fahrwasser zu lenken. Stabilität war das Mantra seiner Ära, auch dank der effizienten Kontrolle von Bürokratie und Presse, sagt der deutsche Japanologe Sebastian Maslow. Daher konnte seine Koalition stets eine Zweidrittelmehrheit erringen, zumal die zersplitterte Opposition keine Gegenvision entwickelte. Auch mehrere Fälle von Vetternwirtschaft und Korruption konnten ihm nichts anhaben.Seine Dominanz nutzte der Premier, um das Inselland wie nie zuvor für das Ausland zu öffnen. Seine Regierung schloss Freihandelsverträge mit der EU sowie einer Gruppe von Pazifikstaaten ab und integrierte Japan dadurch stärker in die Weltwirtschaft. Eine Reform der Unternehmensführung öffnete ausländischen Investoren die Türen. Sogar Firmenikonen wie Sharp durften sie kaufen. Eine erleichterte Visumvergabe ließ die Zahl der Touristen aus Asien explodieren. Seine Regierung führte auch erstmals spezielle Arbeitsvisa an, um den Arbeitskräftemangel als Folge der schrumpfenden Bevölkerung auszugleichen.Seine “Abenomics” getaufte Wirtschaftspolitik schwächte über massive Wertpapierkäufe der Notenbank die japanische Währung. Die Firmengewinne kletterten auf Rekordhöhen. Damit finanzierte die Japan AG massenhafte Zukäufe im Ausland. Abe drängte die Unternehmen zu Lohnsteigerungen und erhöhte jedes Jahr den Mindestlohn. Dank des zweitlängsten Aufschwungs seit dem Krieg legte zum ersten Mal seit Mitte der 1990er Jahre das nominale Bruttoinlandsprodukt zu. Die Verschuldungsquote stagnierte nahezu. Aber infolge der Pandemie steigen nun Schulden und Haushaltsdefizit wieder rasant an. Nachfolge noch unklarDas Gespenst der Deflation droht zurückzukehren, ganz so, als ob Japan wieder am Beginn der Abe-Zeit stünde. Daher drückte sein Rücktritt den Nikkei 225 um 2 %, der Yen wertete kräftig auf. Aber die meisten Analysten erwarten eine Fortsetzung der Abenomics-Politik. Eine restriktive Fiskal- und Geldpolitik wäre Gift für eine Volkswirtschaft, die so rasch altert und schrumpft wie Japan und daher zur Deflation neigt. Wer in Abes große Fußstapfen tritt, entscheidet nun seine Partei. Bis dahin bleibt er im Amt. Zu den Favoriten für die Nachfolge gehören die Ex-Minister Shigeru Ishiba und Fumio Kishida. Als Übergangslösung gelten Kabinettssprecher Yoshihide Suga und Finanzminister Taro Aso.