Handbuch für den Stresstest

Ökonomen über die Mechanismen der Coronakrise

Handbuch für den Stresstest

Von Stefan Reccius, Frankfurt”Die Weltwirtschaft knipst man nicht aus wie eine Glühbirne”, mahnt Stanford-Ökonom John Cochrane, “sondern eher wie einen Atomreaktor. Es muss langsam und mit Bedacht geschehen, sonst kommt es zur Kernschmelze.” Diesem Szenario nähert sich die Weltwirtschaft angesichts des sich rasant ausbreitenden Coronavirus allerdings bedrohlich. Der Finanzwissenschaftler Cochrane und etliche Kollegen haben dazu innerhalb von Tagen Gedanken und Analysen aufgeschrieben. Herausgekommen ist ein Handbuch zur Weltwirtschaft in Zeiten der Corona-Krise.Zusammengestellt haben das E-Book mit dem Titel “Economics in the Time of Covid-19” die frühere Wirtschaftsweise Beatrice Weder di Mauro und der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Richard Baldwin. Weder di Mauro sitzt im Verwaltungsrat der UBS und ist Präsidentin des renommierten Centre for Economic Policy Research (CEPR), wo publiziert, was Rang und Namen hat in der Ökonomen-Zunft. In 14 Beiträgen analysieren Ökonomen das Phänomen Coronavirus und seine Folgen für die Weltwirtschaft aus verschiedenen Blickwinkeln. Die international koordinierte Hauruckaktion lässt sich auch als subtile Botschaft an die Politik interpretieren: Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. “Anhaltende Schmerzen”Für Weder di Mauro und Baldwin ist klar: “Dieser wirtschaftliche Schock dürfte anhaltende Schmerzen und womöglich bleibende Narben hinterlassen”. Die heutige politische Führung sei “mit einem vergleichbaren Stresstest konfrontiert” wie in der Weltfinanzkrise. Die Autoren, so prominent sie sein mögen, stehen dabei vor denselben Problemen wie Auguren und Analysten: Die weltweite Ausbreitung der Epidemie ist beispiellos und der weitere Verlauf kaum seriös zu prognostizieren.Das verdeutlichen Weder di Mauro und Baldwin in ihrer Einführung. Einzigartig sei etwa, dass diese Pandemie vor allem die größten und am stärksten vernetzten Volkswirtschaften treffe. Die Folge ist ein Dreifach-Schlag für die Industrie: eine unmittelbare Einschränkung der Produktion, verstärkt durch ein Übergreifen auf Wertschöpfungsketten, begleitet von einem Einbruch der Nachfrage, weil Vertrauen erodiert und Investitionen ausbleiben. Hinzu kommt: Anders als bei Naturkatastrophen lässt sich nicht abschätzen, wo Fabriken ausfallen. Langfristig könnte der Kontrollverlust Firmen animieren, Lieferketten umzustellen und die globale Arbeitsteilung zu hinterfragen. Kurzfristig können sie Gehälter und Kreditlinien nicht bedienen, was angesichts rekordhoher Verschuldungsquoten in etlichen Industrieländern unabsehbare Folgen für Banken und das Finanzsystem mit sich bringt. Welche Rolle dem Bankensystem diesmal als Krisenmultiplikator zukommt, ist nur ein – kontrovers diskutierter – Themenstrang. Andere Beiträge reichen thematisch von Grenzschließungen in der EU bis zum Welthandel. Ende 2008 mündete die Finanzkrise in einen Kollaps des globalen Warenaustausches. Diesmal könnte es andersherum laufen.Die Stärke dieses Ad-hoc-Sammelbandes liegt nicht darin, dass der Leser scheinbare Gewissheit erhält, wie heftig der Corona-Schock ausfallen wird. Mehrwert schafft das Kompendium, indem es die Dinge ordnet, Zusammenhänge aufzeigt, Szenarien diskutiert und, wo geboten, historische Bezüge herstellt.Weltweit stemmen sich Notenbanker und Regierungen gegen die Folgen. Verdienstvoll ist, dass Weder di Mauro und Baldwin die eingesetzten Instrumente überblicksartig zusammentragen. Erstrebenswert wäre, dies zu einer Art Echtzeit-Enzyklopädie über die wirtschaftspolitischen Reaktionen auf Corona auszubauen, als Orientierungshilfe wie als Werkzeugkasten für den Kampf gegen eine Pandemie ungekannten Ausmaßes.Mit politischen Forderungen halten sie sich zurück, anders als in einem Papier Weder di Mauros mit deutschen Kollegen (vgl. BZ vom 12. März). Weder di Mauro und Baldwin beschwören aber einen neuen europäischen Gemeinschaftsgeist herauf. Gefragt sei “konkrete Solidarität wie das Teilen von Schutzmasken”. Ausgerechnet an diesem Detail wird deutlich, wie brüchig gelebte Solidarität ist: Schweizer, Österreicher und Italiener schimpfen auf die Bundesregierung, weil die den Export von Schutzmasken untersagt hat.