LEITARTIKEL

Die wahre Mondmission

Was könnte ein größerer Vertrauensbeweis sein als ein gemeinsamer Flug zum Mond? Ursula von der Leyen und Joe Biden haben genau das vor, im übertragenen Sinne jedenfalls. Die EU-Kommissionschefin hat den von ihr in Aussicht gestellten Umbau der...

Die wahre Mondmission

Was könnte ein größerer Vertrauensbeweis sein als ein gemeinsamer Flug zum Mond? Ursula von der Leyen und Joe Biden haben genau das vor, im übertragenen Sinne jedenfalls. Die EU-Kommissionschefin hat den von ihr in Aussicht gestellten Umbau der Wirtschafts- und Lebensweise auf Klimaneutralität bis Mitte des Jahrhunderts als Europas “Mann auf dem Mond”-Moment überhöht. Und der neue US-Präsident hat sich mit der sofortigen Rückkehr ins Pariser Klimaabkommen und einem Billionenprogramm für Konjunktur und Klima als Co-Pilot beworben. So dringlich es ist, diese Existenzkrise der Menschheit zu lösen: Die wahre Mondmission der angehenden Biden-Präsidentschaft ist die Reparatur einer Allianz, die Deutschlands Wiederaufstieg aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs ermöglicht hat und den Europäern ein Leben in Wohlstand und Sicherheit.Welch bittere Ironie der Geschichte wäre es, wenn nicht vier Jahrzehnte Kalter Krieg, sondern vier Jahre Donald Trump im Weißen Haus das transatlantische Verhältnis irreparabel geschädigt hätten. Leider gibt es Anzeichen, dass eine in jeder Hinsicht unfassbare Präsidentschaft dies geschafft hat. Aus einer Umfrage unter mehr als 15 000 EU-Bürgern ziehen der britische Politologe Mark Leonard und sein bulgarischer Kollege Ivan Krastev das alarmierende Fazit: Trumps “chaotische Präsidentschaft” habe die transatlantischen Beziehungen gesellschaftlich “tiefgreifend erschüttert”. Leonard und Krastev zeichnen das Bild verstörter Europäer, die sich in Scharen von einem scheinbar gleichgesinnten und verlässlichen Partner abwenden. Deren Antworten offenbaren nicht nur ein Maß an Ablehnung und Entsetzen für Amerikas Politik der jüngeren Geschichte, das jedem Despoten zur Ehre gereicht, sondern auch eine tiefsitzende Zerrissenheit. Ein Beispiel: Fast die Hälfte der Befragten in Deutschland vertritt die Ansicht, die Sicherheit ihres Landes hänge vom militärischen Beistand der Vereinigten Staaten ab, EU-weit sind es noch mehr. Aber europaweit glaubt nur jeder Zehnte, dass im Falle eines militärischen Konflikts auf die USA Verlass wäre. Die überwiegende Mehrheit befürchtet, von den Amerikanern im Stich gelassen zu werden.Im ersten Moment mag das nach einer reichlich abstrakten Gefahr ohne praktische Bedeutung klingen – zumal Biden nicht den von Trump eingeleiteten und in Reihen seiner eigenen Partei wie der US-Streitkräfte als töricht empfundenen Truppenabzug aus Deutschland vollstrecken wird. Tatsächlich steckt in dem Befund ein Auftrag der europäischen Wähler an ihre Regierungen und an Brüssel, der weit über das Militärische hinausreicht: Sorgt dafür, dass wir uns in einer unsicheren Welt behaupten und prosperieren können – auch wenn wir auf sicher geglaubte Bündnisse nicht mehr zählen können. Der Brexit ist Mahnung genug. Für diese Interpretation spricht auch, dass eine relative Mehrheit der Befragten nicht nur in Deutschland fordert, den Vereinigten Staaten wirtschaftspolitisch mehr Kontra zu geben.Biden und von der Leyen haben einander versprochen, das transatlantische Bündnis wiederbeleben zu wollen. Selten war es wichtiger, einem politischen Lippenbekenntnis zügig Taten folgen zu lassen. Da wirkt es wie ein Wink des Schicksals, dass jenseits weltpolitischer Probleme mit komplexen Interessenlagen wie den von Trump desavouierten Abmachungen zu Klima, Handel, Iran und Nato ein rein bilateraler Großkonflikt der Schlichtung harrt. Die Rede ist von Airbus und Boeing, dem Duopol der Flugzeugindustrie. Europäer wie Amerikaner haben erwiesenermaßen mit unrechtmäßigen Subventionen ihren jeweiligen Industriechampion gepäppelt, zum Schaden des anderen. Seit 2004 überziehen sie einander deshalb mit Klagen und neuerdings Milliardenzöllen, die die Welthandelsorganisation autorisiert hat.Es ist eine Gelegenheit von historischer Tragweite. Eine erste vertrauensbildende Maßnahme lässt sich mit der Rücknahme von Strafzöllen rasch einleiten. Sie würde Hunderte unbeteiligte Unternehmen auf beiden Seiten des Atlantiks von Zollbürden befreien, die sie verzweifelt um Vernunft flehen lassen – und würde allen anderen signalisieren: Wir meinen es ernst. Mit einer Einigung in der Sache können Washington und Brüssel die Regeln für die Branche diktieren und insbesondere das Subventionsregime so modernisieren, dass Anreize für Forschung und Entwicklung klimaschonender Flugzeuge entstehen. Das wäre nicht nur ein Dienst am transatlantischen Verhältnis, sondern auch an der gemeinsamen Mondmission.——Von Stefan RecciusBiden und die Europäer müssen heftige Turbulenzen überwinden. Mit einer Befriedung des Streits in der Flugzeugindustrie können sie ihre Entschlossenheit zeigen. ——