Konjunktur

Auftragspolster der Industrie legt immer weiter zu

Der Auftragsstau in der deutschen Industrie wird angesichts von Materialengpässen immer länger. Das Ifo-Institut hat berechnet, wie viel Wertschöpfung die Pandemie Deutschland gekostet hat.

Auftragspolster der Industrie legt immer weiter zu

ba Frankfurt

Die Auftragsbücher der deutschen Industrie werden immer dicker, denn wegen des andauernden Materialmangels hält die Produktion mit den Neubestellungen schon lange nicht mehr Schritt. Seit Juni 2020 steigt der Auftragsbestand stetig und hat im Dezember abermals ein Rekordhoch erreicht. Das Statistische Bundesamt (Destatis) vermeldete ein Wachstum von preis-, saison- und kalenderbereinigt 1,5% zum Vormonat. Im Vergleich zum Vorkrisenniveau – gemessen am Februar 2020 – sind die Orderbücher 29,3% voller.

Mit den sich weiter füllenden Auftragsbüchern erhöht sich auch die sogenannte Reichweite. Destatis vermeldete hier gleichfalls einen neuen Rekord in der seit 2015 erhobenen Zeitreihe: Im Dezember lag die Reichweite bei 7,7 Monaten, im November waren es 7,6 Monate. So lange müssten die Betriebe ohne Neubestellungen bei gleichbleibendem Umsatz theoretisch produzieren, allein um die vorhandenen Aufträge abzuarbeiten.

Lieferengpässe bremsen

Ein wesentlicher Grund, warum die Betriebe die Bestellungen nicht abarbeiten können, sind den Wiesbadener Statistikern zufolge Lieferengpässe, insbesondere bei Vorprodukten. Der globale Lieferkettenstress ist eine der Folgen der Corona-Pandemie. Laut einer Umfrage des Indus­trieverbands DIHK zu Jahresbeginn zeigten sich über alle Wirtschaftszweige hinweg 36% der Unternehmen in erheblichem Umfang betroffen – am stärksten aber hat die Industrie (84%) zu kämpfen. Mit einer Entspannung wird zumeist frühestens in der zweiten Jahreshälfte gerechnet. Weitere Umfragen senden diesbezüglich widersprüchliche Signale: Während die vom Analysehaus IHS Markit befragten Einkaufsmanager erste Entspannungstendenzen andeuten, haben sich laut der EU-Kommission die Probleme im Januar wieder verschärft.

Spürbarer Dämpfer

Zudem könnte die Pandemie für weiteren Lieferkettenstress sorgen – insbesondere falls in China, das eine Nulltoleranzstrategie fährt, erneut Häfen geschlossen werden. Dem Kiel Trade Indicator des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) zufolge stecken rund 11% aller weltweit verschifften Waren in Staus fest. Im Roten Meer – wichtigste Handelsroute zwischen Europa und Asien – sind rund 11% weniger Waren unterwegs als üblich.

Im Euroraum hätte die Produktion im Gesamtjahr 2021 rund 6% höher ausfallen können, wenn Bauteile und Rohstoffe normal geliefert worden wären, stellt der Internationale Währungsfonds (IWF) fest. Beim Bruttoinlandsprodukt hätten es 2% mehr sein können. Deutschland als Indus­triestaat sei überdurchschnittlich betroffen gewesen, ebenso Tschechien, wo viele Autohersteller produzieren und Zulieferer angesiedelt sind. Laut dem IfW Kiel lag 2021 die deutsche Industrieproduktion um etwa 12% unter dem Niveau, das angesichts der hohen Auftragseingänge möglich gewesen wäre. „Dies entspricht einer entgangenen Wertschöpfung von etwa 70 Mrd. Euro“, erklärte dazu IfW-Konjunkturchef Nils Jannsen.

Ökonomen erwarten, dass die Produktion richtig durchstartet, sobald die Engpässe nachlassen. „Das dürfte die Wirtschaftsleistung dann kräftig anschieben“, kommentierte Ifo-Experte Timo Wollmershäuser den vom Ifo-Institut in seinen monatlichen Umfragen ermittelten höchsten Auftragsbestand seit 1969. Die Münchener Wirtschaftsforscher beziffern die coronabedingten wirtschaftlichen Ausfälle auf insgesamt 330 Mrd. Euro für die Jahre 2020 und 2021. In der Schätzung nicht enthalten seien dabei künftige Wertschöpfungsverluste, etwa infolge der Ausfälle in der Bildung.

Ohne die Krise wäre die deutsche Wirtschaft in diesen beiden Jahren um 1,3% pro Jahr gewachsen. 2020 brach die deutsche Wirtschaft um 4,6% ein und wuchs 2021 dann um 2,7%. „Dennoch blieb die gesamtwirtschaftliche Leistung spürbar unter ihren Möglichkeiten“, sagte Wollmershäuser dazu. Ifo-Präsident Clemens Fuest betonte, dass es richtig war, „dass die deutsche Regierung die Wirtschaft entschlossen stabilisiert hat“. Nicht durch eine klassische nachfrageorientierte Konjunkturpo­litik, sondern durch Stabilisierung der Finanzmärkte und Überbrückungshilfen für Beschäftigte, Selbständige und Unternehmen.

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