Optimismus an der Wall Street

Expansive Geldpolitik der US-Notenbank als Treiber - Anleger setzen auf höhere Unternehmensgewinne

Optimismus an der Wall Street

Aktienstrategen setzen auf neue Kursrekorde an den amerikanischen Börsen. Aber nach der starken Erholung im vergangenen Jahr ist der Markt schon überdurchschnittlich hoch bewertet. Die Rückschlagsrisiken steigen.Von Norbert Kuls, New YorkDie meisten Marktstrategen der Wall Street rechnen für das Jahr 2021 mit einer anhaltenden Rekordjagd am amerikanischen Aktienmarkt. Nach einem von der Coronapandemie und starken Kursschwankungen im ersten Quartal geprägten Jahr 2020 setzen Analysten auf eine rasche Verbreitung der kürzlich zugelassenen Impfstoffe und eine darauf folgende Erholung der amerikanischen und globalen Wirtschaft. Zusätzliche Unterstützung für die Aktienkurse dürfte von der Nullzinspolitik der Notenbank Fed kommen, die die Leitzinsen in Reaktion auf den Lockdown im vergangenen März zurückgenommen hatte. Die Fed hat signalisiert, die Leitzinsen bis mindestens Ende 2023 nahe null zu halten. Fiskalpolitische AnreizeIm Median rechnen Analysten an der Wall Street nach Angaben des Informationsdienstes Factset bis zum Ende des kommenden Jahres für den S&P 500 mit einem Indexstand von 4 027 Punkten – was auf Basis des Rekordstands vom Silvestertag 2020 einem Kursgewinn von 7,2 % entsprechen würde. Die Hälfte der Analysten kalkuliert also mit noch höheren Gewinnen, die andere Hälfte gibt sich verhaltener. “Ich erwarte, dass ein Großteil der Kursgewinne in der ersten Jahreshälfte erzielt wird, was eine starke wirtschaftliche Expansion unterstellt, sobald die Impfstoffe auf breiter Basis verteilt sind”, meint Kristina Hooper, Chef-Marktstrategin der Fondsgesellschaft Invesco. Dazu dürfte die “extrem expansive” Geldpolitik der Fed für Risikoanlagen, insbesondere Aktien, förderlich sein. Hooper gehört mit einem erwarteten Kursplus von knapp 16 % auf 4 350 Zähler zu den zuversichtlichsten Strategen an der Wall Street. “Es gibt Optimismus im Überfluss”, konstatiert Sam Stovall, Chef-Investmentstratege bei CFRA Research, der mit einem Kursplus von knapp 9 % auf 4 080 Punkte rechnet. Neben der Geldpolitik weist Stovall auch auf den später im Januar erwarteten Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Joe Biden hin. Bidens Demokraten könnten je nach Ausgang der am heutigen 5. Januar stattfindenden Stichwahlen im US-Bundesstaat Georgia zusätzlich zum Repräsentantenhaus möglicherweise auch die Kontrolle über den Senat erhalten. Eine demokratische Regierung sowie die Kontrolle beider Kongresskammern erhöhe die Chancen auf zusätzliche fiskalpolitische Anreize, meint Stovall. Andere Strategen fürchten im Fall eines demokratischen Siegs bei den Stichwahlen allerdings, dass die Regierung Biden leichter höhere Steuern für Unternehmen durchsetzen könnte.”Das könnte sich negativ auf Aktien auswirken und das Risiko wachstumsfeindlicher Politik vergrößern”, meint Dubravko Lakos-Bujas, Stratege bei der Großbank J.P. Morgan Chase. Bei einem Sieg beider Demokraten hätten beide Parteien 50 Sitze im Senat. Im Fall eines Abstimmungspatts könnte die demokratische Vizepräsidentin Kamala Harris, die Kraft ihres Amtes Präsidentin des Senats ist, mit ihrer Stimme den Ausschlag geben. Lakos-Bujas hält eine Niederlage beider Republikaner im traditionell konservativen Georgia gleichwohl für unwahrscheinlich und kalkuliert auf dieser Basis mit einem Plus von 17 % auf 4 400 Zähler für den S&P 500.Entscheidend für die langfristige Entwicklung der Aktienkurse sind gemeinhin die Unternehmensgewinne. Von dieser Seite erwarten Analysten Rückenwind. Nach den pandemiebedingten Einbußen im vergangenen Jahr prognostizierten Analysten für die im S&P 500 abgebildeten US-Konzerne zuletzt ein Gewinnwachstum von 22 % gegenüber dem Vorjahr. Das ist nach Berechnungen von Factset das stärkste Wachstum seit 2010, dem ersten Jahr nach der Finanzkrise. “Die ungewöhnlich hohe Wachstumsrate kann sowohl auf die vergleichsweise schwachen Gewinne des Jahres 2020 als auch auf die für 2021 erwartete Ergebnisverbesserung zurückgeführt werden”, schreibt Factset-Analyst John Butters. Für 2020 rechneten Analysten vor dem Beginn der Bilanzsaison für das vierte Quartal zuletzt mit einem Gewinnrückgang von fast 14 %.Für 2021 prognostizieren die Auguren indes jedem der elf Marktsegmente des S&P 500 steigende Gewinne. Angeführt wird die erwartete Erholung von konjunktursensiblen Segmenten. Energieunternehmen dürften von einem höheren Ölpreis profitieren, Industrietitel von einer erwarteten Erholung der Fluggesellschaften, deren Geschäft besonders stark unter den pandemiebedingten Reisebeschränkungen gelitten hatte. Die Ergebnisse zyklischer Konsumwerte werden wahrscheinlich von einem Comeback der Autoindustrie sowie der Hotel- und Restaurantbranche beflügelt werden, heißt es bei Factset. Das vergleichsweise schwächste Wachstum dürfte es dagegen bei nichtzyklischen Konsumwerten, bei Versorgern und im Immobiliensektor geben, also klassischen konjunkturunabhängigen Bereichen des Aktienmarktes. Technologiewerte führendAn den US-Börsen wetten Anleger allerdings schon seit geraumer Zeit auf einen kräftigen Anstieg der Unternehmensgewinne. Die Aktienkurse hatten sich nach dem Einbruch im März daher stetig erholt. Angeführt von Technologiewerten, die von der pandemiebedingt beschleunigten Digitalisierung der Wirtschaft profitierten, kletterte der S&P 500 bis zum Jahresultimo 2020 um mehr als 18 % auf ein Rekordhoch von 3 756 Zählern. Das sorgte trotz gestiegener Gewinnprognosen für eine entsprechend hohe Bewertung. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis des S&P 500 liegt mit rund 22 deutlich über dem Zehnjahresmittel von knapp 16.Entsprechend anfällig könnte der Aktienmarkt für Rückschläge sein, falls sich die in den Kursen eingepreisten Hoffnungen nicht erfüllen. “Der Grad, zu dem die Impfstoffe erfolgreich verteilt und von der Öffentlichkeit angenommen werden, ist die wichtigste Annahme für unser Kursziel”, sagt John Stoltzfus, Stratege beim Wertpapierhaus Oppenheimer. Stoltzfus ist auch Optimist. Er geht bis Ende 2021 von 4 300 Punkten für den S&P 500 aus – ein Aufschlag von knapp 15 %.