Lernende Systeme als wertvolle "Spürnasen"

Neuartige Bedarfsanalysen im Banking - Wie dumme Maschinen und intelligente Menschen gemeinsam Synergieeffekte der zentralen Datennutzung entdecken

Lernende Systeme als wertvolle "Spürnasen"

Maschinen sind dumm. Und genau das ist ihre Stärke. Weil sie nicht subjektiv vorselektieren (müssen), sind Computerprogramme in der Lage, Zusammenhänge zu erkennen, die Menschen aufgrund persönlicher, kultureller oder kontextabhängiger Filter verborgen bleiben. Sie sehen Muster, die für unser stets nach relevanten Zusammenhängen suchendes Gehirn unsichtbar bleiben. Sie nehmen alles wahr, was sie wahrnehmen können. Ungefiltert, solange wir ihnen nicht entsprechende Filter einbauen, weil wir wie etwa bei Mikrofonen die lauten Hintergrundgeräusche ausblenden wollen. Maschinen wissen nicht, was im Vor-der- und was im Hintergrund ist. Sie hören Geräusche, die wir als irrelevant und störend ausblenden. Sie messen Werte von scheinbar wertlosen Quellen.Erst auf den zweiten (oder zweitausendsten) Blick erkennen wir beim konsequenten “Data Mining” den Schatz, den wir zuvor nicht finden konnten: etwa dass der Schatten auf dem Ultraschallbild ein schnell wachsender Tumor ist oder dass hinter dem Versicherungsfall Betrug stecken könnte. Das ist keine Frage von Intelligenz, sondern eher der Erfolg endlosen Eifers, der Lohn für unermüdlichen Fleiß. Genau deswegen spricht man in Fachkreisen eher nicht von “künstlicher Intelligenz” (KI), sondern von “Machine Learning” oder “lernenden Algorithmen”.Gerade jetzt, wo durch die Covid-19-Pandemie die Digitalisierung in allen Bereichen unserer Gesellschaft einen zusätzlichen Schub bekommt, kann KI eine willkommene Unterstützung für Banken sein, Kundenbedarfe schneller zu erkennen, Sicherheitssysteme resilienter zu machen und die Prozessoptimierung weiter voranzutreiben. Bei der HypoVereinsbank nutzen wir solche Technologien dementsprechend immer intensiver und haben dafür eigens ein Fachteam, das “Advanced Analytics Lab”, aufgebaut. Dieses Team – eng eingebunden in die KI-Aktivitäten der gesamten UniCredit Gruppe – konzipiert und koordiniert unterschiedlichste KI-Anwendungsmöglichkeiten für alle Unternehmenssegmente. Kundenbedarf identifizierenDie ersten konkreten Anwendungen sind bereits erfolgreich in der Praxis implementiert. So konnten wir beispielsweise mit Hilfe der neuartigen Technologie sogenannte “Hidden Affluents” identifizieren, also wohlhabende Kunden, die bis dahin nicht als solche betreut wurden – schlicht, weil uns bisher ihr Vermögen weitgehend verborgen geblieben ist. Solche Kunden können aber in der Regel innerhalb des Privatkunden-Segments besser von Private-Banking-Beratern betreut werden und erfordern auch eine spezifische Produktpalette, die besser zu ihren finanziellen Bedürfnissen passt.Ein hoher Anteil der von uns so identifizierten und anschließend angesprochenen Kunden freute sich über die Ansprache und unsere Aufmerksamkeit. Sie waren offen für Gespräche und zeigten Interesse an einer intensivierten Beratung in Vermögensfragen – ein Bedarf, von dem wir ohne die technische Hilfe vielleicht nie erfahren hätten.Der Einsatz von KI ermöglicht uns aber nicht nur den Wechsel von der produktbezogenen zur bedarfsorientierten Beratung im Privatkundengeschäft, sondern unterstützt uns auch im Unternehmenskundengeschäft bei den Bedarfsanalysen. Auch hier gilt es den Bedarf von Firmen frühzeitig zu antizipieren und zu decken. Durch die Analyse von Zahlungsströmen mittels KI lassen sich beispielsweise oft besser geeignete Produkte und Angebote im Bereich des Transaction Banking oder des Währungsmanagements identifizieren.So haben etwa bei internationalen Transaktionen einzelne Kunden Devisenrisiken, die sich vermeiden ließen, oder sie könnten durch Unterstützung im Währungsmanagement die Risiken besser absichern. Nur wissen sie oft selbst nichts davon. Es sind versteckte Bedarfe, die erst später auffallen, auch weil Kunden gar nicht ahnen, dass es dafür geeignete Lösungen gibt. Hier können wir mit Methoden der Predictive Analytics frühzeitig Unterstützungsangebote machen, so dass Probleme erst gar nicht auftauchen. Selbstlernende Algorithmen sind dabei eifrige “Spürnasen”, die sich auch nicht vom souveränen Kundenauftritt, der keinerlei Hilfssignale sendet, ablenken lassen.Ein solcher Einsatz von KI ersetzt also nicht – wie oft befürchtet – die persönliche Betreuung durch anonyme Roboterleistung. Sie führt im Gegenteil zum Idealfall einer individualisierten, maßgeschneiderten Ansprache und Kundenbetreuung, egal ob in der Vermögensbetreuung, im Zahlungsverkehr oder beim Working-Capital-Bedarf: Statt wie früher Kunden anzusprechen, wenn wir ein neues Produkt anbieten, sprechen wir heute Kunden an, wenn sie Bedarf haben, und entwickeln dann die passende Lösung. Individueller kann Service nicht aussehen!Doch nicht nur das direkte Kundenerlebnis verbessert sich auf diese Weise, auch die internen Prozesse werden durch KI optimiert. Im Risikomanagement nutzen wir modernste Machine-Learning-Methoden, um beispielsweise ein erhöhtes Kreditausfallrisiko eines Kunden frühzeitig erkennen und gemeinsam mit ihm gegensteuern zu können. Auch lassen sich durch lernende Algorithmen die Sicherheitsprozesse stärken und verbessern. Sie helfen, verdächtige Transaktionen leichter aufzuspüren und bei Know-your-Customer (KYC)-Prozessen riskante Kunden schneller und präziser zu identifizieren, zum Beispiel fragwürdige Briefkastenfirmen. Sind solche “High Risk Customers” erkannt, können wir entsprechend schnell reagieren und somit die Compliance unserer Bank sicherstellen.Von unschlagbarem Wert und nicht zu vergessen sind die unspektakulären, oft geradezu unsichtbaren “Hilfsarbeiten” mittels KI, wie beispielsweise die voll automatisierte Erkennung und Extraktion von Informationen aus Dokumenten. Niemand kann so schnell und so gewissenhaft seitenlange Dokumente durcharbeiten wie “dumme Maschinen”. Automatische Texterkennung und Extraktion von Informationen klingt simpel, ist aber technisch nicht zu unterschätzen. Sosehr wir uns schon seit Jahrzehnten auf Taschenrechner und Excel-Tabellen verlassen, so selbstverständlich seit Jahren Internet-Suchmaschinen und Preisvergleichsroboter sind, so wenig wollen wir im Alltag einer internationalen Großbank heute noch auf “Optical Character Recognition”, OCR, verzichten.Die Basis erfolgreicher KI-Anwendung ist präzises Datenmanagement. Sonst droht ein Schreckensszenario, das IT-Fachleute so schön schnöde benennen: “Shit in, shit out.” Erst die Bündelung aller relevanten Daten in einem sogenannten “Data Lake” sowie ein strikt geregeltes Zugriffsmanagement mit entsprechenden Datenschutzvorkehrungen ermöglichen das, wovon wir träumen: die schnelle und zuverlässige Nutzung von Daten. Die Synergieeffekte der State-of-the-Art-Technologien erfordern gründliche menschliche Vorarbeit auf höchstem Niveau. Emotionale IntelligenzBei alledem ist der Begriff “künstliche Intelligenz” so falsch wie irreführend. Er ist beliebt, weil er die technischen Möglichkeiten emotionalisiert. Und in der Tat muss technische Nüchternheit gepaart sein mit emotionaler Intelligenz, aber da, wo sie Sinn macht: bei den Menschen nämlich. Die Fähigkeit, eigene und fremde Gefühle wahrzunehmen, zu verstehen und auf sie einzugehen, ist und bleibt im “People Business” Banken enorm wichtig. Das gute Zusammenspiel aus maschineller Analyse und menschlicher Beratungsexpertise ist der entscheidende Erfolgsfaktor.In der Finanzwirtschaft geht es um seriöse langfristige Kundenbeziehungen. Dafür brauchen wir als moderne Dienstleister rund um die Uhr volle Aufmerksamkeit auf allen Kanälen. Lernende Systeme können uns dabei helfen. Sie nehmen prinzipiell vorurteilsfrei wahr, haben keinen “Gender Bias” oder andere diskriminierende Eigenschaften, zumindest dann, wenn wir es ihnen nicht durch einseitige Trainingsdaten oder falsche Filter vorgeben.Um diese oft hochkomplexe Aufgabe zu bewältigen, benötigen wir divisionsübergreifende Teams, bestehend aus Business-Spezialisten, Data Scientists und Datenexperten, die gemeinsam an Anwendungsfällen arbeiten und dabei möglichst selbstkritisch mit eigenen “unconscious biases” umgehen. Kurz: “Lernende Systeme” brauchen “intelligente Menschen”, die ihnen die Synergieeffekte der zentralen Datennutzung erst entlocken. Michael Diederich, Vorstandssprecher der HypoVereinsbank – UniCredit Bank AG