Corona - Beginn oder Ende eines neuen Börsenzyklus?

Die Pandemie als Verschärfung von Krisensymptomen - oder als Start einer nachhaltigen Transformation des Wachstumsmodells

Corona - Beginn oder Ende eines neuen Börsenzyklus?

Das Börsenjahr 2020 stand ganz im Zeichen von Corona. Schon im Februar traf die Pandemie die Weltwirtschaft mit voller Wucht. Der konjunkturelle Einbruch war dabei doppelt so tief wie in der Finanzkrise und erfolgte in deutlich kürzerer Zeit. Es kam zu in ihrer Schärfe nie dagewesenen Abschlägen an den Kapitalmärkten. Besonders prekär: Nicht nur klassische Risikoanlagen, sondern auch die sicheren Häfen verloren. Die Korrelationen brachen – ein Horrorszenario für professionelle Anleger.Dann der Umschwung: Mit dem Wetter besserten sich im Frühsommer auch die Neuinfektionszahlen, die “erste Welle” war überstanden. Mit den umfangreichen Hilfen und der Stabilisierung der Pandemie setzte bereits in der zweiten Märzhälfte eine kräftige Erholung ein. In einigen Bereichen, wie zum Beispiel US-Technologieaktien, waren die Verluste bis zum Ende des dritten Quartals bereits mehr als wettgemacht. Im Oktober folgte dann die “zweite Welle” an Neuinfektionen, und wieder gaben Risikoassets nach. Dramatischer Schlusspunkt dieses an Wendungen wahrlich nicht armen Jahres war die US-Wahl, die ebenfalls unter dem Eindruck der Pandemie stattfand. Die von vielen erwartete “,blaue Welle” blieb aus, das Rennen um das Weiße Haus wurde zur Zitterpartie. Und die Märkte? Schossen nach oben in der Aussicht darauf, dass vieles beim Alten bleibt – oder sogar besser wird.Die Corona-Pandemie hat vieles verändert, auch an den Kapitalmärkten. Und so viel scheint schon heute sicher: Die Bewältigung der Folgen wird ein Dekadenthema werden. Entscheidend wird aber nicht “dass”, sondern “wie” die Börsen von den Folgen in den kommenden Jahren beeinflusst werden.Dabei gibt es zwei ganz unterschiedliche Sichtweisen auf die Entwicklungen in Geld- und Fiskalpolitik, Gesellschaft und an den Märkten. Für die einen stehen wir am Ende eines langen Börsenzyklus. Hohe Bewertungen, wachsende Verschuldungsgrade und pandemiebedingte Einschränken begrenzen demnach das Aufwärtspotenzial und erhöhen das Crash-Risiko. Politische Risiken von Brexit über Populismus bis hin zur Rivalität zwischen den USA und China kommen noch hinzu. Die Pandemie hat nach dieser Lesart bereits vorhandene Krisensymptome verstärkt und die Gefahr einer Abwärtsspirale erhöht.Für die anderen wiederum markiert Corona den Anfang eines neuen Zyklus. Der Paradigmenwechsel in der Geldpolitik hin zu deutlich größerer Inflationstoleranz (verbunden mit langfristig niedrigen Zinsniveaus), das Ende der Austerität in wichtigen Volkswirtschaften (wie Deutschland) und der Beginn einer nachhaltigen Transformation der Wachstumsmodelle bieten demnach die Aussicht auf einen anhaltenden Aufschwung an den Kapitalmärkten, z. B. bei Aktien. Wir glauben eher an das zweite Szenario, und damit ständen die Börsen eher am Beginn eines neuen als am Ende eines Börsenzyklus. Geldpolitischer SchwenkEin wichtiger Grund für diese Sichtweise ist der Strategieschwenk in der Geldpolitik. Wichtige Zentralbanken – allen voran die US-Notenbank Federal Reserve – haben dieses Jahr ihr Koordinatensystem neu justiert. Ende August 2020 verkündete der Vorsitzende der Fed, Jerome Powell, auf dem Notenbank-Symposium in Jackson Hole die Ergebnisse der Überprüfung des geldpolitischen Rahmens. Die wichtigste Änderung betrifft das Inflationsziel der Fed. Künftig strebt die amerikanische Notenbank eine Inflation von zwei Prozent an – im Durchschnitt. Man wechselt damit von einer punkt- zu einer zeitraumbezogenen Inflationssteuerung, versieht die entsprechenden Ziele also mit einem “Gedächtnis”. Das bedeutet nichts anderes, als dass man ein vorübergehendes “Überschießen” der Teuerung zulassen will.Wachstumsförderung gewinnt also an Bedeutung, Inflationsbekämpfung wird unwichtiger – und die US-Geldpolitik bleibt entsprechend lange (oder besser: noch länger!) locker. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat ihre neue Strategie zwar noch nicht bekannt gegeben, aber auch in Frankfurt denkt man offenbar in diese Richtung. Am Ende wird ihr nicht viel anderes übrig bleiben, als der vom US-Pendant vorgegebenen Richtung zu folgen. Die EZB wird daher im Dezember geldpolitisch nachzulegen, sowohl durch ein erweitertes Ankaufprogramm als auch ein neues langfristiges Refinanzierungsgeschäft (LTRO). Was heißt das für die Kapitalmärkte? Die Nominalrenditen verharren auf Jahre hinaus auf niedrigen Ständen, und negative Realrenditen werden zur Norm.Auch auf einem zweiten, für die Kapitalmärkte wichtigen Feld hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden, sozusagen im Windschatten von Corona: Fiskalischer Aktivismus in großem Stil ersetzt Austerität. Die letzten Bastionen der Haushaltsdisziplin, wie etwa Deutschland, sind gefallen. Allein in der Bundesrepublik, bislang Hort der Stabilität und budgetpolitisch gesteuert nach dem Vorbild der “schwäbischen Hausfrau”, wurde 2020 ein unmittelbar haushaltwirksamer Fiskalimpuls von 8,8 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verabschiedet. Hinzu kommen Stundungen von Steuern und Sozialabgaben über 7,3 % und Liquiditätsmaßnahmen bzw. Garantien über 24,3 %. In Summe stützt Berlin die Volkswirtschaft damit im gigantischen Ausmaß von 39,9 % – bis jetzt.Nun befindet sich Deutschland nach Jahren der “schwarzen Null” in einer fiskalisch komfortablen Situation. Mit den Vereinbarungen vom EU-Gipfel im Juli 2020 über die Etablierung von europaweiten Coronahilfen wurde aber zudem ein Transfermechanismus geschaffen, der auch schwächere Staaten in die Lage versetzt, ambitionierte Ausgabenprogramme zu finanzieren. Das beste Beispiel ist das besonders von der Pandemie gebeutelte Italien. Rom ist der größte Profiteur des neuen “Recovery Fund” und will die ihm zufließenden Mittel in Infrastrukturmaßnahmen und Konjunkturhilfen investieren. Durch die Verbindung von EZB als Anleihekäufer und den Transfers aus Brüssel können diese Aufgaben sogar gestemmt werden, ohne dass der Spread italienischer Anleihen (BTP) ansteigt. Im Gegenteil. Daran sieht man: Hier hat eine erhebliche Weichenstellung stattgefunden, die nicht nur auf Europa beschränkt ist. Auch in den USA stehen die Zeichen auf Fiskalimpulse, erst recht, wenn die Demokraten neben der US-Präsidentschaft am 5. Januar bei der Stichwahl in Georgia auch noch eine Mehrheit im Senat erobern sollten.In diesem Trend stecken auch Risiken, keine Frage. Allerdings überwiegen in einer Zeit, in der die Weltwirtschaft mit der schwersten Krise seit der “Großen Depression” ringt und die nachhaltige Transformation der Volkswirtschaften immer drängender wird, klar die Vorteile. Das gilt umso mehr, als die Staaten sich weltweit Geld sehr günstig leihen können bzw. bei negativen Kupons sogar noch “Geld verdienen”. Unter diesen Umständen ist kein Platz für Austerität. Ableitungen für die MärkteFür die Kapitalmärkte heißt das: Kurzfristig kann es immer wieder zu Unsicherheit und Rücksetzern kommen, etwa im Zusammenhang mit politischen Risiken wie dem Brexit. Auch die Pandemie wird bis zur endgültigen Überwindung von Corona die Börsen mitprägen und – je nach Infektionsgeschehen – die Entwicklung bremsen.Viel wichtiger ist aber die strategische Sicht: Die Kombination aus geld- und fiskalpolitischem Rückenwind wirkt wie ein kräftiger Schub für Risikoanlagen. Unternehmens- und Peripherieanleihen, Aktien und ausgewählte Rohstoffe (wie Gold) sollten von der anhaltenden Aussicht auf negative Realrenditen profitieren. Wichtig dabei: Selektion wird in der Post-Corona-Welt immer mehr zum Erfolgskriterium, denn die Pandemie entwickelt sich zum Trendverstärker. Das gilt auch für Immobilien, die trotz einiger Herausforderungen attraktiv bleiben. Es stimmt zwar, dass einige Nutzungsarten durch coronainduzierte Verhaltensänderungen Härten unterliegen. Aber erstens weiß niemand, wie lange, persistent und umfassend diese Trends sind. Und zweitens gibt es – etwa bei Logistikimmobilien – auch gegenläufige Entwicklungen. Die Immobilie bleibt daher ein wichtiger Bestandteil in einem balancierten Portfolio, gerade in Zeiten negativer Realzinsen.Uns steht also ein neuer Börsenzyklus bevor. Wie lange er dauert und wie weit er trägt, kann heute niemand sagen. Aber die Richtung ist klar: nach oben. Jens Wilhelm, Vorstandsmitglied, Union Investment