LEITARTIKEL

Durchwachsen

Christine Lagarde wäre vermutlich eine gute EU-Kommissionspräsidentin. Sie ist politisch ebenso erfahren wie talentiert, sie ist charismatisch und gewieft, und sie kann eingängige Botschaften für die breite Öffentlichkeit formulieren. Lagarde ist...

Durchwachsen

Christine Lagarde wäre vermutlich eine gute EU-Kommissionspräsidentin. Sie ist politisch ebenso erfahren wie talentiert, sie ist charismatisch und gewieft, und sie kann eingängige Botschaften für die breite Öffentlichkeit formulieren. Lagarde ist 2019 aber nicht Kommissionschefin, sondern – völlig überraschend – EZB-Präsidentin geworden, und da fällt ihre Bilanz nach einem Jahr eher durchwachsen aus. Kurzfristig hat sie keineswegs alles, aber wohl vieles richtig gemacht. Mittel- und langfristig aber läuft sie Gefahr, falsche, weil gefährliche Weichen für die EZB zu stellen.In der Coronakrise hat die EZB im März zunächst vor allem mit Liquiditätshilfen zielgerichtet reagiert – was zu dem Zeitpunkt klug und angemessen war. Lagarde hat das aber schlecht verkauft und mit der Aussage, die EZB sei nicht dafür da, Spread-Unterschiede zwischen den Anleihen einzelner Euro-Länder zu nivellieren, die grassierende Unsicherheit sogar potenziert. So richtig die Aussage grundsätzlich ist, so unglücklich war es, in der Extremsituation Öl ins Feuer zu gießen. Da hat sich auch Lagardes fehlende Erfahrung als Zentralbankerin bitter gerächt. Als dann klar wurde, dass die Pandemie und der Lockdown auch die Euro-Wirtschaft in eine Jahrhundertrezession stürzen, haben Lagarde und die EZB schnell und resolut nachgelegt. Das hat Zweitrundeneffekte über das Finanzsystem verhindert und geholfen, eine Abwärtsspirale zu vermeiden, die kaum mehr zu kontrollieren gewesen wäre. Das war – um das Merkel-Bonmot zu zitieren – wohl alternativlos.Daraus folgt aber nicht, dass die Geldpolitik ständig nachlegen oder sogar immer mehr tun sollte, als offenkundig angezeigt ist. Wenn jetzt wegen des dramatischen Infektionsgeschehens in Europa weitere Hilfen für die Euro-Wirtschaft angezeigt sein sollten, steht zuvorderst die Fiskalpolitik in der Pflicht. Dass die Politik beim bereits beschlossenen Corona-Wiederaufbaufonds nicht zu Potte kommt, ist ein Armutszeugnis. Die EZB sollte denn auch bei der Zinssitzung am Donnerstag erst einmal stillhalten. Lagarde und ihre Mitstreiter müssen zudem im Blick behalten, dass irgendwann ein Ausstieg aus der ultralockeren Geldpolitik angezeigt ist. Expansive Politik eignet sich nicht als Dauerlösung – auch weil sie sich abnutzt. Deswegen darf auch das Corona-Notfallkaufprogramm PEPP nicht zur Dauereinrichtung mutieren.Für Lagarde geht es jetzt zugleich darum, die Grabenkämpfe im EZB-Rat aus der Spätphase der Draghi-Ära nicht wieder aufbrechen zu lassen. Dass sie diese mit ihrem kollegialeren Führungsstil einstweilen überwunden hat, gehört ebenfalls zu ihren großen Verdiensten im ersten Jahr. Der wahre Lackmustest steht aber aus, wenn die Lageeinschätzung weniger eindeutig ist als in der akuten Krise. Lagarde muss sich dann auch viel stärker der geldpolitischen Kärrnerarbeit stellen und darf das Feld nicht komplett EZB-Chefvolkswirt Philip Lane überlassen. Dass so mancher Experte inzwischen weniger auf Lagardes Pressekonferenz und mehr auf Lanes fast schon ritualisierten Blog am Folgetag schaut, ist zweifellos problematisch. Lagarde wirkt bei den Auftritten auch zunehmend verunsichert. Darunter leidet ihr Charisma gehörig. Richtig gefährlich wird es allerdings da, wo immer stärker die Politikerin Lagarde zum Vorschein kommt. Stichwort: Verhältnis von Fiskal- und Geldpolitik. Natürlich hat Lagarde als ehemalige französische Finanzministerin weniger Berührungsängste mit der Fiskalpolitik und zweifellos streben Regierungen und EZB aktuell stark in die gleiche Richtung. Das wird aber nicht auf ewig so sein. Zielkonflikte sind dann programmiert. So wenig Staatsschulden plötzlich per se ein “free lunch” sind, so wenig überholt ist deshalb die Trennung von Fiskal- und Geldpolitik. Das Risiko einer “fiskalischen Dominanz” der Geldpolitik ist aktuell so real wie selten. Die EZB darf aber nicht zum Büttel der Euro-Fiskalpolitik werden.——Von Mark SchrörsChristine Lagarde ist jetzt ein Jahr EZB-Präsidentin. In der Coronakrise hat die EZB resolut agiert. Lagardes Kurs birgt aber langfristig auch große Risiken.——