LeitartikelFinanzpolitik

Deutschlands Schuldendilemma

Die Schuldenbremse sorgt für haushaltspolitische Disziplin. Aber im Moment ist eher ein finanzieller Befreiungsschlag nötig, um das Wachstumspotenzial Deutschlands wieder zu stärken und die aktuellen Herausforderungen wie Krieg und Klima zu stemmen. Was tun?

Deutschlands Schuldendilemma

Finanzpolitik

Deutschlands Schuldendilemma

Statt Wirtschafts­wachstum zu verteufeln, muss man es stärken. Nur so bleiben die Staatsschulden tragbar.

Von Stephan Lorz

Die Entwicklung ist bedrohlich: Weltweit wachsen die Schuldenberge in immer neue Höhen. Die Finanzierungslasten steigen rasant, was den haushaltspolitischen Bewegungsspielraum einschnürt. Jahr für Jahr müssen etwa Japan und die USA Schuldenpapiere in der Größenordnung von mehr als 30% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) neu auf den Anleihemärkten unterbringen, weil sie neben den Defiziten auch immer mehr ausgelaufene Papiere refinanzieren müssen. Die Abhängigkeit von Zinsen und Marktgeschehen steigt rasant. Das bedroht die Leistungsfähigkeit der Staaten unmittelbar.

Als Entschuldigung wird auf die großen Krisen der vergangenen Jahre verwiesen wie Corona, Krieg und Inflation. Doch darf man nicht vergessen, dass die Notenbanken in diesen Zeiten ein Nullzinsregime etabliert hatten und die Staatspapiere gleich auf die eigene Bilanz genommen haben, was für enorme Erleichterung gesorgt hat. Zudem hatte die hohe Inflation die Schuldenlasten ganz automatisch dahinschmelzen lassen. Längst hätte man also wieder zu solideren Staatsfinanzen zurückkehren müssen, zumal die wieder höheren Zinsen inzwischen schmerzlich durchzuwirken beginnen.

Im Vergleich zu den großen Schuldenstaaten wie den USA, Japan, Italien, Frankreich und – neu – China steht Deutschland noch ganz gut da: Die deutsche Schuldenquote von um die 60% sieht wie die Zensur eines Klassenprimus aus. Angesichts dessen erscheint auch die Debatte über die Einhaltung der Schuldenbremse geradezu als Non-Event. Warum also das ganze Bohei?

Das ist auch eine spieltheoretische Frage. Wäre es denn klug, auf eine höhere Verschuldung zu verzichten, wenn alle anderen hier keine Grenzen kennen und die Modernisierung ihrer Standorte vorantreiben? Deutschland würde dann zwar zu den Heiligen inmitten von Sündern zählen, bliebe aber auf morscher Infrastruktur und analogen Techniken sitzen, wäre unattraktiv für Investitionen sowie die Ansiedlung neuer Wachstumssektoren wie künstliche Intelligenz. Das macht auch eine niedrige Verschuldung untragbar.

Allerdings täuscht der niedrige Schuldenstand ohnehin. Denn die finanzielle Tragfähigkeit muss auch künftige Ausgaben oder Mindereinnahmen einbeziehen. Und hier sieht es für Deutschland zappenduster aus: Es drohen enorme Verpflichtungen für Renten- und Pflegeversicherung, und demografisch bedingt dürfte die Wirtschaft noch viele Jahre unter anhaltender Wachstumsschwäche leiden. Die implizite, also heute noch nicht ausgewiesene Staatsschuld liegt so gesehen eher über 160% des BIP als bei 60%.

Was tun? Noch mehr sparen? Natürlich sind auch unter der bestehenden Schuldenbremse mehr Investitionen möglich, sofern man die konsumtiven sozialen Ausgaben massiv zurückdrängt. Aber an eine solche Umschichtung glauben nur noch ökonomische Theoretiker und Ideologen. Insofern ist ein Plan nötig, um die Schuldendynamik weiterhin im Zaum zu halten, gleichwohl aber die Mittel für nötige Investitionen freizumachen, die dann das Wachstumspotenzial insgesamt heben und künftige Lasten tragbarer machen.

Und womöglich ist die aktuelle Phase auch die letzte, in der sich Deutschland noch einen solchen finanziellen Befreiungsschlag erlauben kann, weil dieser Staat im internationalen Umfeld noch relativ gut dasteht. Allerdings muss sichergestellt werden, dass die Gelder tatsächlich in Investitionen fließen. Das spricht gegen eine Abschaffung der Schuldenbremse und für eine konzertierte Aktion von Regierung und Opposition zur Schaffung einer einmaligen Fazilität: Ein verfassungssicher konstruierter, mehrere 100 Milliarden Euro fassender Sonderfonds für Klima, Infrastruktur und Verteidigung mit klar umrissenen Zielen muss an den Start. Nur mit ihm lassen sich die nötigen Investitionen nachholen, die Modernisierung angehen und das Wachstumspotenzial heben. Und selbstverständlich muss dann auch alles getan werden, um das „Potenzial“ in reales Wachstum einmünden zu lassen. Die aktuelle ideologisch geprägte Wachstumskritik bei SPD und Grünen muss also der Vergangenheit angehören. Nur Wachstum hält die Schulden in Schach.

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