KURZARBEIT: KURZER SEGEN, LANGER FLUCH? - INTERVIEW: DETLEF SCHEELE

"Wir sind mit einem blauen Auge davongekommen"

Der Chef der Bundesagentur für Arbeit über die Folgen der Coronakrise, die schwierige Situation auf dem Ausbildungsmarkt und das Budget seiner Behörde

"Wir sind mit einem blauen Auge davongekommen"

Herr Scheele, trotz der massiven Einschränkungen ist der deutsche Arbeitsmarkt verhältnismäßig gut durch die Krise gekommen. Wie erklären Sie sich das?Zum einen hatten wir vor der Pandemie einen – im Vergleich zu anderen EU-Staaten – robusten und stabilen Arbeitsmarkt, trotz der konjunkturellen Abkühlung, die bereits 2019 spürbar war. Wir stellen aber seit einigen Jahren auch eine zunehmende Entkopplung des Arbeitsmarktes von der Konjunktur fest. Beschäftigung und freie Stellen steigen, die Arbeitslosigkeit sinkt – nahezu unabhängig von der konjunkturellen Entwicklung.Gründe dafür sind der zunehmende Fachkräftebedarf in Deutschland und die Tatsache, dass vor allem konjunkturunabhängige Branchen wie Gesundheit und Sozialwesen kontinuierlich wachsen. Die Pandemie hat diese Entwicklung ausgebremst, aber nicht beendet. Aktuell stabilisiert in erster Linie die Kurzarbeit den deutschen Arbeitsmarkt massiv. Dieses Modell haben auch viele andere Staaten inzwischen übernommen. Wegen der Corona-Pandemie wurde ein “verlorener Jahrgang” auf dem Ausbildungsmarkt befürchtet. Ist das eine Gefahr?Auf dem Ausbildungsmarkt sind wir in diesem Jahr mit einem blauen Auge davongekommen. Wir vermitteln in Absprache mit den Kammern und Innungen bis ins neue Jahr weiter. Da bin ich optimistisch, dass noch einige Ausbildungsverträge zustande kommen. Die Bundesregierung unterstützt die Betriebe mit der Ausbildungsprämie.Größere Sorgen bereitet uns das kommende Jahr. Wir sehen aktuell, dass die Betriebe zurückhaltender Lehrstellen melden und wegen der Pandemie weniger Praktika anbieten. Zudem überbrücken viele Bewerber dieses Jahr mit einem weiteren Schulbesuch oder einem Freiwilligendienst.Sie werden nächstes Jahr sehr wahrscheinlich einen Ausbildungsplatz suchen – zusätzlich zu den regulären Schulabgängern. Mein Appell an alle Betriebe ist deshalb: Bitte bilden Sie aus! Nach der Pandemie ist der Fachkräftemangel genauso wieder da wie vorher – und kann sich zu einer immer schlimmeren Wachstumsbremse entwickeln. Baden-Württemberg hat vor kurzem verkündet, einen zweiten Ausbildungsstart im Februar anzubieten. Ist das auch in anderen Bundesländern denkbar? Welche Vorteile hätte das?Es gibt diesen zweiten Ausbildungsstart bereits, zum Beispiel für verkürzte Ausbildungen. Er wurde bisher allerdings nicht so häufig genutzt. Dies müssen außerdem die zuständigen Landesministerien entscheiden. Alles, was hilft, damit Bewerber und Betriebe jetzt und in den kommenden Wochen noch zusammenfinden, ist begrüßenswert. Welche Auswirkungen hatte Corona denn für die Auszubildenden?Das Ausbildungsmarktgeschehen ist durch die Pandemie um sechs bis acht Wochen nach hinten verschoben. Deshalb haben auch wir gemeinsam mit den Kammern und Innungen verabredet, dass wir unsere Nachvermittlungsaktivitäten bis in den Januar ziehen. Im Übrigen bieten unsere Berufsberaterinnen und Berufsberater seit diesem Herbst auch Videoberatung für die Jugendlichen an. Wir können also – trotz der Kontakteinschränkungen – die jungen Menschen weiterhin beraten und bei der Ausbildungsplatzsuche unterstützen. Trotz der großen Unterstützung durch die Bundesregierung sind dem Arbeitsmarkt viele Erwerbstätige verloren gegangen. Wie sollen diese wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden?Der Blick auf die Daten zeigt hier ein differenziertes Bild: Tatsächlich ist im Zuge der Pandemie nur 130 000 Menschen gekündigt worden. Aber ein weiterer Teil konnte seine Arbeitslosigkeit nicht beenden, eine dritte Gruppe konnte ihre Qualifizierungen nicht absolvieren und gilt damit statistisch ebenfalls als arbeitslos. Unterm Strich beläuft sich der Corona-Effekt auf die Arbeitslosigkeit derzeit auf 556 000.Unsere Aufgabe ist es nun, diese Menschen möglichst schnell wieder auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren. Dafür steigen wir auch wieder verstärkt in die Vermittlung und Beratung ein – auch während des aktuellen Lockdown, zum Beispiel mit unserer Videoberatung, auch telefonisch und mit vielen Online-Angeboten. Wir haben im Haushalt für das nächste Jahr noch mal mehr Mittel für die Weiterbildung von Arbeitslosen eingestellt – insgesamt 2,2 Mrd. Euro. Damit wir trotzdem weiter zuverlässig und schnell Kurzarbeitergeld auszahlen können, werden wir zusätzlich befristet bis zu 5 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einstellen. Wir sehen, dass es trotz Pandemie vielen Menschen gelingt, einen neuen Job zu finden. Zwischen April und Oktober haben über 1 Million Menschen eine Beschäftigung oder Ausbildung aufgenommen. Auch das ist ein Zeichen für die Stabilität des deutschen Arbeitsmarktes. Der Bund federt die Defizite aus den zusätzlichen Ausgaben in der Pandemie ab, damit die BA schuldenfrei in das Jahr 2022 starten kann. Lässt sich schon absehen, ob die Mittel ausreichen?Wir haben auf Basis der aktualisierten Eckwerte der Bundesregierung von Ende Oktober unseren Haushalt für das kommende Jahr aufgestellt. Danach werden wir – mit den Zuschüssen der Bundesregierung in diesem und im kommenden Jahr – nahezu schuldenfrei in das Jahr 2022 starten. Entscheidend ist, dass die Eindämmungsmaßnahmen wie geplant zeitlich und mit Blick auf die betroffenen Branchen begrenzt bleiben und das Infektionsgeschehen sich zumindest nicht verschärft. Letztlich ist im Moment jede Prognose für das kommende Jahr aber ein ziemlicher Blick in die Glaskugel. Wie lange kann sich Deutschland das Kurzarbeitergeld noch leisten?Kurzarbeitergeld ist ein Rechtsanspruch. Bei Vorliegen der Voraussetzungen wird es so lange gezahlt, wie es zurzeit gesetzlich zulässig ist, und solange die Voraussetzungen gegeben sind. Zweifellos ist es ein teures Instrument – aber wir sehen, dass es die Beschäftigung massiv stabilisiert und Arbeitslosigkeit verhindert.Massenarbeitslosigkeit wäre auf Dauer viel teurer und für die betroffenen Menschen furchtbar. Im Übrigen sehen wir auch, dass die Kurzarbeit – vor dem Teil-Lockdown – deutlich zurückgegangen ist. Das zeigt, dass die Unternehmen die Beschäftigten wieder einsetzen, sobald sich die Auftragslage verbessert. Und ich schließe daraus, dass sie Kurzarbeit nicht übermäßig als Puffer nutzen. Schränkt es die Handlungsfähigkeit der BA ein, wenn sie auf keine eigenen Reserven mehr zurückgreifen kann und auf Finanzhilfen aus Berlin angewiesen ist?Ehrlich gesagt ist es etwas verrückt: Vor einem Jahr musste ich in jedem Interview die hohe Rücklage rechtfertigen. Jetzt zeigt sich, wie wichtig sie war und wie schnell selbst eine so hohe Summe von knapp 26 Mrd. Euro ausgegeben ist. Mit dieser historisch einmaligen Situation konnte allerdings auch niemand rechnen. Die Zuschüsse von gut 10,5 Mrd. Euro, die wir von der Bundesregierung in diesem und im nächsten Jahr erhalten, sorgen dafür, dass wir bei der Beratung und Vermittlung von Menschen in Arbeit und Ausbildung keine Abstriche machen müssen.Spätestens ab dem Jahr 2022 wollen wir langsam wieder Rücklagen aufbauen. Gemeinsam mit der Bundesregierung sind wir uns einig, dass wir mittelfristig 0,65 % des Bruttoinlandsproduktes an Rücklagen haben sollten, um im Fall der Fälle sofort handlungsfähig zu sein. Angesichts des aktuellen Teil-Lockdown und des unabsehbaren weiteren Verlaufs der Corona-Infektionszahlen – insbesondere nach den Weihnachtsfeiertagen: Wie lange, glauben Sie, braucht der deutsche Arbeitsmarkt, um sich zu erholen? Welche Maßnahmen könnten die Erholung beschleunigen?Vor dem zweiten Lockdown hat sich der deutsche Arbeitsmarkt bereits bemerkenswert erholt. Wir hatten eine überdurchschnittliche Herbstbelebung, die Kurzarbeit ging deutlich zurück, und die Arbeitskräftenachfrage erholte sich zunehmend. Diese ausgesprochen gute Entwicklung wird durch die aktuellen Einschränkungen gebremst, ohne Zweifel.Aber anders als im Frühjahr sind diesmal die Maßnahmen auf einige Branchen beschränkt, sie sind bisher auf wenige Wochen begrenzt, die Grenzen bleiben geöffnet, so dass Lieferketten nicht unterbrochen werden – und die Geschäfte, Schulen und Kindertagesstätten sind nicht geschlossen. Wenn dies so bleibt und der Lockdown bald vorbei ist, haben wir schon die Hoffnung, dass sich der Arbeitsmarkt – abgesehen von den saisonalen Faktoren – weiter positiv entwickelt. Die Fragen stellten Anna Steiner und Angela Wefers.