IM GESPRÄCH: GEORG KELL

"Ich liebe Krisen"

Sprecher des VW-Nachhaltigkeitsbeirats erwartet, dass die Probleme der Autoindustrie ihren Wandel treiben

"Ich liebe Krisen"

Von Sebastian Schmid, FrankfurtGeorg Kell ist gerade für zwei weitere Jahre an die Spitze des Nachhaltigkeitsbeirats von Volkswagen bestellt worden. Der Mitgründer mehrerer Nachhaltigkeitsinitiativen der Vereinten Nationen, darunter des UN Global Compact, trifft eigentlich gerne Menschen. In der Coronakrise ist das natürlich seltener der Fall. Dennoch kann er der Situation durchaus etwas abgewinnen. “Ich liebe Krisen”, erklärt Kell. “Meine Erfahrung aus 20 Jahren Arbeit mit verschiedenen Führungskräften hat mir gezeigt, dass Krisen die beste Gelegenheit sind, Wandel im Unternehmen schnell voranzutreiben.” Das sei auch ein Grund gewesen, warum er sich schnell bereit erklärt habe, in den Nachhaltigkeitsbeirat bei Volkswagen zu gehen.Der Anfang sei dabei nicht einfach gewesen. Der Diesel-Skandal sei damals auf seinem Höhepunkt gewesen. Der Nachhaltigkeitsbeirat habe sich dann zweimal im Jahr mit dem Vorstandsvorsitzenden – zunächst Matthias Müller, später dann Herbert Diess – sowie dem Vorstand zu einem intensiven Austausch getroffen. Dabei habe der Beirat von Anfang an drei klare Forderungen gestellt. Die erste sei eine Beschleunigung der Entwicklung hin zu E-Mobilität gewesen. Ein zweiter Punkt war die Forderung nach einer proaktiven Hinwendung zu Regulierungszielen statt eines Bekämpfens oder versuchten Umgehens von Regulierungsvorgaben. Drittens sollte es einen Kulturwandel im Unternehmen geben. Mehr Tempo dank DiessDer ehemalige CEO Müller habe zwar begonnen, die Themen anzugehen. Es habe damals aber auf vielen Ebenen noch unheimlich viele Widerstände gegeben. “Dann kam Herbert Diess und damit viel frischer Wind.” Die Elektrifizierung habe unter dem neuen Chef noch einmal deutlich Geschwindigkeit aufgenommen. Zudem sei die Dekarbonisierung jetzt auch in der Führungsebene als zentrales strategisches Element verankert. Das zeige sich an zahlreichen Stellen – von den Lieferketten bis zu der Umstellung der unternehmenseigenen Kraftwerke in Wolfsburg von Kohle- auf Gasverstromung.Der Wandel von innen heraus sei immer der Schwierigste. Unternehmen seien unter normalen Bedingungen kaum bereit, ihre Grundausrichtung zu ändern. “Jede Krise ist eine wundervolle Chance, die man nicht vergeuden sollte”, ist Kell daher überzeugt. Er habe drei Grundsätze für den Umgang mit Krisen: “Schaue dir das Kernproblem genau an, auch wenn es schmerzhaft ist. Ziehe deine Lehren daraus und nutze diese, um das Unternehmen stärker zu machen.” Ein wesentlicher Faktor sei dabei allerdings auch die Zeit. Und da habe Volkswagen am Anfang sicher einiges liegen lassen. “Das ist aber auch Teil des Lernprozesses.”Eine der größten Herausforderungen für Volkswagen sei, wie ein Industriekonzern aus sich heraus den Unternehmergeist einer Softwarefirma entwickeln könne. Problematisch sei für deutsche Industrieunternehmen schon allein, mit den Gehältern, die Firmen wie Apple, Google oder Microsoft zahlen, mitzuhalten. In Deutschland seien die Möglichkeiten aufgrund der Tarifverträge oft etwas begrenzter. Die Gründung der eigenen Car.Software.Org soll da mehr Flexibilität bieten und helfen, den “Rückstand auf Tesla” aufzuholen, der zuletzt immer wieder offenbar wurde. In den vergangenen zwölf Monaten hatten zahlreiche Softwareprobleme bei den beiden wichtigen Modellen ID3 und Golf 8 den Volkswagen-Konzern zurückgeworfen. Christian Senger, als Chef der ausgegliederten Software-Tochter nach Wolfsburg geholt, verlor seinen Posten an den ehemaligen BMW-Manager Dirk Hilgenberg. Damit wächst der Einfluss der Ex-BMWler in Wolfsburg. Auch der neue Audi-Chef Markus Duesmann und Konzernchef Diess wechselten von dem Münchener Autobauer zu Volkswagen.Dass die Coronavirus-Pandemie und die damit verbundene Wirtschaftskrise dazu führen könnten, dass Nachhaltigkeitsthemen wieder an Bedeutung verlieren, glaubt Kell nicht. Er ist sogar vom Gegenteil überzeugt. “Viele Investoren verstehen durch die Krise viel besser, dass man auch Zukunftsrisiken, die heute noch nicht voll eingepreist sind, berücksichtigen sollte.” Wer nicht vorbereitet sei, drohe im Ernstfall unterzugehen. Das Interesse an wissenschaftsbasierten Nachhaltigkeitszielen habe seit Ausbruch der Pandemie weiter zugenommen. Bei Investoren angekommenDas liege auch daran, dass die Investorengemeinde dem Thema deutlich mehr Aufmerksamkeit widme. Volkswagen habe schon Monate vor der Ausgabe des ersten Green Bond (siehe Artikel auf dieser Seite) ein Rahmenwerk für grüne Finanzierungen entwickelt. “Wegen Corona und Marktvolatilität hat sich der erste Climate Bond etwas verzögert”, erklärt Kell. Angesichts der hoch attraktiven Konditionen, die Volkswagen wie kurz zuvor auch Daimler erzielt hat, und des hohen Investitionsbedarfs in nachhaltige Technologie ist zu erwarten, dass in den kommenden Monaten und Jahren eine ganze Reihe grüner Finanzierungen für die Unternehmen der Automobilbranche anstehen. Auch Kell glaubt dies mit Blick auf VW. Noch vor wenigen Jahren wäre ein vergleichbares Produkt kaum honoriert worden, ist er sicher. “Die Finanzwelt hat die Materialität der nichttraditionellen Faktoren erst ab ca. 2014 erkannt”, erinnert sich Kell. Das habe dazu geführt, dass das Thema auch in den Unternehmen als strategische Führungsaufgabe angesehen und vollständig integriert wurde – “im Finanzwesen, im Personalmanagement, im Produktdesign usw.”. Zuvor sei es über Jahre in vielen Unternehmen primär als PR-Thema betrachtet worden.”Dank Digitalisierung und künstlicher Intelligenz ist es immer leichter, billiger und robuster nichttraditionelle Faktoren in Investitionsprozessen und -entscheidungen mit einfließen zu lassen”, erklärt Kell den Sinneswandel auch mit den technischen Möglichkeiten. Das Erfassen zahlreicher ESG-Daten (Environment, Social, Governance) in Echtzeit habe dies erst möglich gemacht. Mit diesen Themen befasst sich Kell, wenn er gedanklich nicht gerade bei Volkswagen weilt. “Etwa 50% meiner Arbeitszeit befasse ich mich mit VW, den Rest widme ich Arabesque.” Der deutsch-englische Vermögensverwalter, bei dem Kell Chairman ist, zählt drei Geschäftssparten, die allesamt auf ESG-Themen abstellen. So ermittelt die Tochter Arabesque S-Ray mit Sitz in Frankfurt mit Hilfe von Big-Data-Analysen und künstlicher Intelligenz, wie es um die Nachhaltigkeit von Unternehmen bestellt ist. Zuletzt hatten sich Helaba Digital und Allianz X an dem Start-up beteiligt. Im Assetmanagement, das noch im Aufbau sei, wird laut Kell ein mittlerer dreistelliger Millionenbetrag gemanagt. Arabesque AI, der dritte Geschäftszweig, unterstützt Investmententscheidungen mit künstlicher Intelligenz und berücksichtigt dabei ESG-Kriterien.